Wer bin ich?
- Ina Luzia
- 14. Juni 2023
- 5 Min. Lesezeit
Dank der letzten Operation darf ich mich ganz neu kennenlernen. Es wird sicher noch einige Zeit dauern, bis mein Verdauungssystem sich an den Magenschrittmacher gewöhnt hat. Trotzdem schaffe ich jetzt schon 2 Liter Wasser am Tag zu trinken, 2 Liter! Mit dem Essen klappt es noch nicht ganz so gut. Und doch gibt es schon eine Veränderung: meine Routine. Von einer großen Portion morgens und abends kann ich nun zu vier kleinen Portionen verteilt über den Tag übergehen. Es mag nach wenig klingen, doch für mich ist das schon eine gewaltige Verbesserung. Besonders erstaunt bin ich über die Energie, die man nach einem Mittagessen plötzlich spürt. Ich hatte ganz vergessen, dass die Nahrungsaufnahme einen Mittagsschlaf ersetzen kann. Auch, wenn ich (noch) nicht an dem Punkt bin, an dem ich nach Gefühl essen kann, ist es doch ein Riesenfortschritt für mich. Und auch auf der Waage zeichnen sich so langsam die ersten Erfolge ab. Die Operation bringt bereits viele positive Veränderungen mit sich und ich bin neugierig, wie sich mein Leben in ein paar Wochen, Monaten und Jahren anfühlen wird. Ich freue mich auf das, was mich alles erwartet. Dennoch machen mir die Veränderungen Angst. Er werden einige Herausforderungen auf mich zukommen. Bevor ich erzähle, welche Herausforderungen ich meine, möchte ich euch wissen lassen, dass es mir unglaublich schwer fällt darüber zu sprechen. Ich habe lange Zeit über meine Gedanken geschwiegen, weil ich mich selbst nicht verstanden und geschämt habe. Aber ich möchte einmal mehr auf diesem Blog über mich hinauswachsen und über ein Thema sprechen, dass viele chronisch Kranke stillschweigend betrifft. Es geht um die Problematik, dass Patient: innen oft nicht ernst genommen werden und deshalb nicht die Therapie bekommen, die sie brauchen: "Sie sind zu jung, um krank zu sein." "Sie reden sich das ein." "Sie sollten sich in einer psychiatrischen Praxis vorstellen." ... Auch mir wurde lange Zeit nicht geglaubt. Also entwickelte sich eine Stimme, die diese Problematik mit der Unsichtbarkeit meiner Erkrankung in Verbindung brachte. Die Lösung der Stimme war, dass ich möglichst krank aussehen musste, damit mir geholfen werden konnte. Möglichst krank auszusehen, war für mich ohnehin kein Problem, denn je länger die Ärzt: innen keine Therapie für mich hatten, desto schlechter ging es mir. Essen und Trinken wurde mehr und mehr zur Qual. Auch wenn ich mich tagtäglich zum Essen zwang, reichte es nicht aus, um mein Gewicht zu halten. Dadurch fiel dann doch irgendwann auf, dass es mir nicht gut gehen konnte. Und das war die Bestätigung auf die meine Stimme gewartet hatte: Krank aussehen, verschafft uns Gehör. Ich hasse diese Stimme, denn sie setzt mir seit Jahren falsche Gedanken in den Kopf und ist dabei auch noch unfassbar laut. Sie versucht mir zu helfen, aber nicht auf die richtige Art und Wiese. Und mit jedem neuen Ton der Stimme, wird ihre Denkstruktur mehr gefestigt und automatisiert abgespult. Wie sehen diese Gedanken genau aus? Wenn ich etwas esse, dann denke ich nicht nur: "Gleich wird es mir wieder schlecht gehen, es wird mir Schmerzen bereiten.", sondern ich denke auch: "Wenn ich dadurch auch noch zunehme, dann wird mich niemand als krank ansehen und mir wird keiner glauben.". Stellt ihr euch nun die Frage, ob ich vielleicht doch auch eine Essstörung habe? Wenn ja, dann denkt ihr wohl das Gleiche, das ich vor einiger Zeit auch gedacht habe. Denn ich war total verwirrt. Wie kann ein und dieselbe Person, zwei völlig konträre Dinge denken? Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ohne Schmerzen essen zu können und wieder gesund auszusehen. Aber gleichzeitig werde ich von einer Stimme ermahnt, die diese Wünsche nicht toleriert. Langezeit habe ich die Stimme ignoriert und verdrängt. Doch als ich den Psychoterror in meinem Kopf nicht mehr aushalten konnte, begann ich meiner besten Freundin Annika davon zu erzählen und fragte auch meine Therapeutin, ob ich eine Essstörung entwickelt hatte. Sie konnte mich beruhigen, denn es handelt sich dabei nicht um eine Essstörung. Ich sehe mich im Spiegel weder als zu dick, noch höre ich auf zu essen. Ich esse, soviel ich an Schmerzen aushalten kann. Wenn ich mich auf Bildern sehe, dann finde ich mich schrecklich unattraktiv. Ich wünsche mir eine weibliche Figur, dass ich aussehe, wie eine erwachsene Frau und nicht wie ein 16 Jähriges Mädchen. Essgestörte hingegen glauben, dass sie wirklich zu dick sind und handeln auch dementsprechend. Da das Thema Essen für mich von Grund auf negativ besetzt ist, sollte ich mir Kampfansagen überlegen, die ich meiner Stimme/ meinen Gedanken entgegensetzen kann: "Ich werde richtig gut aussehen! Das Essen wird mir die Energie geben, die ich brauche, um all das zu machen, was ich bisher nicht machen bzw. nicht genießen konnte! Man wird mich endlich als Frau wahrnehmen! Und falls mir nicht geglaubt werden sollte, ziehe ich mein T-Shirt hoch, denn die Narben und der Kasten in meinem Bauch sprechen für sich." Den hilfreichsten Gedankenanstoß, hat mir dann noch meine Therapeutin gegeben: Das "nicht ernst genommen werden" kann man aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten. Es ist doch durchaus denkbar, dass ich gerade weil ich zunehme, ernst genommen werde. Denn dadurch wirke ich weniger kindlich, mehr erwachsen und kann präsenter auftreten. Erst diese Sichtweise konnte meine festgefahrene Gedankenstruktur etwas lockern. Denn sie durchbricht die Verbindung zwischen "ernst genommen werden" und krank aussehen. Nicht nur meine Psyche und mein Körper werden sich verändern, sondern auch die Aktivitäten, die ich mit mehr Energie und Konzentration machen kann. Ich bin neugierig, ob mir der Alltag leichter fallen wird. Aber ich spüre auch einen großen Druck durch Erwartungen, die mein Umfeld an mich haben könnte. Wird von mir verlangt werden, ganz normal zu essen und zu trinken? Werde ich mehr Leistung in der Uni zeigen müssen? Wird es akzeptiert werden, wenn es mir mal schlecht geht? Ich frage mich, ob ich den Erwartungen gerecht werden kann. Aber stop mal, wer sagt denn, dass irgendjemand irgendwelche Erwartungen an mich hat? Ich erkenne, von wem diese Erwartungen stammen: Richtig, von mir selbst. Ich werde lernen müssen, dass ich nicht all meine Erwartungen erfüllen kann; dass scheitern ok ist; dass ich meine Erwartungen anpassen und auf verschiedene Weise bewerten kann. Zuletzt beschäftigt mich noch eine Frage, die sich sicher jeder schon mindestens einmal in seinem Leben gestellt hat: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Wer kann ich sein? Ich stelle mir einen Kreis vor. Bisher sind 90% des Kreises mit meiner Erkrankung gefüllt. Wenn ich mir nun vorstelle, dass es bald vielleicht nur noch 20% sein könnten, was mache ich dann mit den frei gewordenen 80%? Wie kann ich diese Fläche füllen? Auch, wenn die Fläche sich im Laufe des Lebens verändern wird, stellt diese Frage mich vor eine große Ratlosigkeit. Deshalb habe ich Familie und Freunde gebeten, die Fläche mit Worten zu füllen, die beschreiben, was mich ausmacht und was ich bald alles wieder machen kann. Denn oftmals sehen andere Menschen viel mehr in uns, als wir selbst. Es liegt noch ein langer Weg mit vielen Herausforderungen vor mir. Aber ich gehe geduldig diesen Weg, mit der Sicherheit, dass ich ihn niemals allein gehen werde.
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