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Was andere nicht sehen

Seitdem ich den Magenschrittmacher habe, habe ich das Gefühl erdrückt zu werden. Erdrückt von Allen um mich herum, die glauben mich besser zu kennen, als ich mich selbst. Würdet ihr jemanden, der gerade einen Arm verloren hat und nun eine Prothese trägt, fragen, ob er euch einen Aufsatz schreiben kann? Vermutlich nicht. Also warum werde ich dann ununterbrochen aufgefordert mehr, vielseitiger und flexibler zu essen? Schritti unterstützt mich nun erst seit zwei Monaten. In dieser Zeit habe ich bereits 3 Kilo zugenommen, einen Crêpe probiert, begonnen Mittags eine "Kleinigkeit" zu essen und auch Nachmittags noch eine Apfelschorle zu trinken. Ist das nicht genug? Jede neue Veränderung bedeutet für mich Stress. Mein Alarmsystem, das sich über Jahre entwickelt hat, um mich zu beschützen, ist im Dauer-On-Modus. Ich weiß, dass man mir es oft nicht ansieht, weil ich den Konflikt -essen oder nicht essen- mit mir selbst ausmache. Aber tatsächlich ist alles, was außerhalb meiner sicheren Routine liegt, eine Riesen Herausforderung. Meine Gewohnheiten, haben mir all die Jahre das Überleben gesichert. Ich habe meine Lebensweise so auf meine Erkrankung angepasst, dass ich funktionieren konnte. Ich weiß, dass ich meine Freiheit und Leichtigkeit nur zurückbekommen kann, wenn ich ausprobiere, welche Gewohnheiten ich noch brauche und welche eventuell überflüssig geworden sind. Ich dachte selbst, dass das einfacher sein würde. Aber in meinem Gedächtnis wird jegliche Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme mit Schmerzen assoziiert. Allein der Gedanke an einen Schluck Wasser, wirft mich zurück in die Vergangenheit, in der alles was die Speiseröhre hinunter lief, das Gefühl auslöste, innerlich zu zerreißen. Es mag sein, dass mein Magen durch die technische Unterstützung nun etwas besser verdauen kann, das bedeutet aber noch lange nicht, dass es mein Darm und meine Psyche genau so können. Schon vor der Implantation musste ich ständig erklären, warum ich dieses und jenes nicht oder überhaupt nicht essen kann. Ich lernte mit der Zeit, mich von dem Druck meines Umfeldes abzugrenzen. "Nein" zu sagen, wurde immer leichter, denn die Erkrankung diente mir als Schutzpanzer. Doch jetzt fällt es mir schwer zu sagen, "Nein danke, mein Magen schafft das nicht", denn es wird ja erwartet, dass er es schafft. Eigentlich müsste ein "Nein danke, ich möchte das gerade nicht." ausreichen. Ich bin Niemandem eine Erklärung schuldig. Schließlich ist es doch vollkommen in Ordnung, etwas nicht zu wollen, auch wenn man es theoretisch könnte. Wenn ich jemanden frage, ob er/ sie Lust hat eine Waffel essen zu gehen und dieser jemand, keine Waffel essen möchte, dann verlange ich ja auch keine Rechtfertigung oder antworte: "Aber du kannst doch Waffeln essen." Nicht nur der Druck von außen, auch die Erkrankung selbst, überfordert mich in vielerlei Hinsicht. Jede Mahlzeit birgt das Risiko Schmerzen zu bekommen, die frühsten am Abend abklingen und mich somit davon abhalten, den Tag so zu leben, wie ich es gerne möchte. Jetzt, wo ich statt zwei mal, viermal täglich esse, ist die Herausforderung größer als je zuvor. Zweimal mehr und das jeden Tag, muss ich mich dazu überwinden mein Alarmsystem abzustellen. Mal gelingt es mir ganz gut und mal hadere ich damit. Am Samstag, als ich mit meiner Mama auf dem Kämpferherzentreffen war, war augenscheinlich alles in bester Ordnung. Ich sah viele bekannte Gesichter wieder und konnte mich so gut unterhalten, wie ich es sonst nur selten kann. Denn was uns Kranke verbindet, ist das gegenseitige Verständnis, was wir uns einander entgegenbringen. Burak, den ich in Berlin auf einem Rare Disease Day kennenlernen durfte, sagte zu meinen neuen Herausforderungen: "Hey Ina, das sind doch enorme Fortschritte, die du machst. Du kannst stolz auf dich sein. Mach alles in Ruhe und in deinem Tempo." Mir war bis dato überhaupt nicht klar gewesen, was mich in den letzten Wochen beschäftigt hatte... Es war das fehlende Verständnis dafür, wie schwer mir die ganzen Umstellungen fallen, wie sehr ich mich von den Herausforderungen erdrückt fühle und wie überfordert ich mit meiner Erkrankung bin. So hat auch dort Niemand mitbekommen, wie sehr ich mit meinem Mittagessen haderte. Ich hatte ein halbes Brötchen mit Frischkäse, eine Hand voll Erdbeeren und einen Kaffee dabei. Schon Stunden, ja Tage vorher, beschäftigte mich dieses Brötchen. Der Konflikt -essen oder nicht essen- begleitete mich bis zum ersten Bissen in ein Stückchen Erdbeere. Und auch während des Essen überkam mich die Angst, nun doch Schmerzen zu bekommen. Auch wenn es am Ende gut ging, stand mein Nervenkostüm kurz vor einem Burnout. Ich möchte Niemandem einen Vorwurf machen, denn ich weiß, dass man manchmal einfach von der Euphorie ein "normales" Leben führen zu können, überwältigt wird. Ich weiß auch, dass Niemand mir hinter die Stirn schauen und sehen kann, womit ich tagtäglich kämpfe. Genau deshalb schreibe ich diesen Blogbeitrag. Denn es gibt nichts Wichtigeres, als offen und ehrlich über unsere Gefühle zu sprechen.


 
 
 

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