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Vorurteile

Aktualisiert: 15. Juni 2023

In den letzten Jahren habe ich mir ein großes Schutzschild aufgebaut, was mich vor vielen äußeren Einflüssen bewahrt. Trotzdem bin auch ich nicht immer selbstbewusst genug, um alles einfach an mir vorbei ziehen zu lassen. Mein Schutzschild besteht aus Selbstbewusstsein, Erfahrung, und Rückhalt durch Familie und Freunden. Aber auch aus oversize Pullis und weiten Jeans. Mein Bauchmonster hat mich ziemlich dünn werden lassen, sodass ich mich manchmal einfach nicht wohl fühle. Manch blödem Kommentar oder abwertenden Blick, kann selbst mein Schutzschild nicht immer stand halten. Dann fühle ich mich, als hätte mir jemand "Essstörung" auf die Stirn tätowiert. Oder als müsste ich, wie ein Pferd mit Scheuklappen durch die Stadt laufen, um mich vor den Blicken anderer zu schützen. Als müsste ich mich, wie ein Verbrecher für alles rechtfertigen. Nicht selten ist der Auslöser für vorschnelles Urteilen Neid. Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen. Die Person hinter der Fassade bleibt unberührt. Sie sehen vielleicht auf den ersten Blick eine schlanke Frau, die sehr diszipliniert ist und auf ihren Körper achtet. Aber Moment, das wäre ja etwas lobenswertes. Es würde jeden anderen, der nicht so aussieht wie sie, in ein schlechtes Licht rücken. Also wird ihnen im zweiten Augenblick, der wohl wahrscheinlichste Grund für ein solches Auftreten klar: "Sie ist bestimmt Magersüchtig und isst nur noch drei Salatblätter am Tag." Es stimmt: Essen macht mir, ebenso wie einer essgestörten Person, große Probleme. Aber sollte man darauf neidisch sein? Sollte man sich nicht glücklich schätzen, über sein Körpergewicht, seine Ernährung, seinen Sport, sein Lebensstil frei bestimmen zu können? Wenn ich das im Leben erreiche, was für die meisten unter uns ganz normal ist, dann mache ich drei Luftsprünge und renne zur nächsten Pizzeria, egal was irgendjemand von mir denkt. Aber nicht nur im Alltag begegnen mir Vorurteile. Sogar in Arztpraxen und Krankenhäusern machen sie keinen Halt vor mir. Während ich im Wartebereich eines Krankenhauses saß, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen und ich wachte auf einer Liege mit Infusionen im Arm auf. Über mir beugte sich eine kleine dunkelhaarige Frau mit weißem Kittel. "Haben Sie gefrühstückt? Sind Sie essgestört? Essen Sie überhaupt etwas?" Waren die ersten Sätze, die ich nach dem Aufwachen zu hören bekam. Ich versuchte der Ärztin alles über mein Bauchmonster zu erklären, aber es schien, als würde sie mir nicht zuhören. Sie beharrte so sehr auf ihrem Vorurteil, dass ich vor Wut weinte und meine Mama versuchen musste die Ärztin aufzuklären. Nach ein paar Untersuchungen, sollte ich auf die Station gebracht werden. Auf die Frage, was ich essen wolle, antwortete ich :"Nichts, meine Mama kümmert sich um alles." Da erwiderte die Ärztin: "Na sehen Sie, da haben wir es doch! Hatte ich also doch Recht." Nein hatte sie nicht. Aber, dass ich der Küche meinen komplizierten Ernährungsplan nicht zumuten wollte, versuchte ich ihr erst gar nicht verständlich zu machen. Nicht nur Magersucht ist ein gängiger Stempel, der mir aufgedrückt wird. Ich wurde auch schon gefragt, ob ich mir den Finger in den Hals stecken würde und bulimisch wäre. Wenn ich in diesem Moment nicht mit verbundenen Füßen unter einem Szintigraphen geklemmt hätte, wäre ich der Ärztin wohl ins Gesicht gesprungen. In solchen Situationen fühle ich mich, als wäre ich Pinocchio mit wachsender Nase. Als wäre ich nicht bei klarem Verstand. Als wäre ich ein Kleinkind, das seine Eltern anschwindelt. Es kommt mir manchmal so vor, als könnten junge, schlanke Frauen nur an einem einzigen Krankheitsbild leiden. Ich habe gelernt damit umzugehen. Es geht in das eine Ohr rein und kommt meist ohne Umwege aus dem anderen wieder raus. Aber was muss in einem psychisch instabilen Menschen vorgehen, der vielleicht wirklich an einer Essstörung leidet und kein Schutzschild bei sich hat? Vorschnelles urteilen, ob wahr oder falsch, ist immer verletzend. Egal warum und an wen es sich richtet. Niemand, auch ich nicht, kann sich von Vorurteilen freisprechen. Sie drängen sich schneller auf, als man es realisieren kann. Deshalb ist es so wichtig, dass uns bewusst wird, dass Vorurteile keine Tatsachen sind. Dass Unterstellungen unseren Gegenüber sehr stark verletzten können. Niemand kann in den anderen hineinschauen und wissen, wie groß das Päckchen ist, dass er zu tragen hat.




 
 
 

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