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Rückwärts lernen, Vorwärts leben

Aktualisiert: 15. Juni 2023

Hallo Ihr da draußen! Ich melde mich nach langer Zeit zurück. In den letzten Monaten ist viel passiert. Ich habe mal wieder viel über mich selbst und das Leben gelernt. Und jetzt habe ich die Kraft es mit Euch zu teilen.

Mitte Februar musste ich erneut ins Krankenhaus, da der Hubbel unter meiner Bauchdecke, der durch den Knoten des Faszienfadens verursacht wurde, Schmerzen verursachte. "So jetzt wird es einmal kalt." Eine Krankenschwester sprühte meinen Bauch mit Desinfektionsspray ein. Dann legte Dr. Incredible eine blaue Auflage auf meinen Bauch und setzte eine lokale Betäubung. "Endlich erlebe ich Sie mal in Aktion", witzelte ich. "Naja, die große Operation haben Sie ja leider verpasst.", grinste er, "11er Skalpell bitte!" Während Dr. Incredible sich mit Skalpell und Schere vergnügte, sah ich dabei zu, wie sich Nadel und Faden durch meine Bauchdecke schoben. Inzwischen ist von der kleinen Nachbesserung nichts mehr zu sehen. Aber mein Darm ist leider eine zweite große Baustelle, die ich noch nicht im Griff habe. Durch ein MRT sollte festgestellt werden, ob es im Darm Auffälligkeiten gibt. Am Vortag der Untersuchung musste ich 2 Liter Abführmittel innerhalb von 2 Stunden trinken. Das Zeug schmeckte, als hätte jemand das Mittelmeer in Wasserflaschen abgefüllt. Ich konnte mich kaum bewegen, so voll war mein Bauch. Immerhin staute es sich dieses mal nicht im Magen an. Am nächsten Morgen dachte ich, ich hätte das Schlimmste hinter mir. Aber im Wartebereich der Praxis kam eine Schwester mit einem Kanister Kontrastmittel auf mich zu. Innerhalb von 30 min sollte ich nochmal 1,5 Liter trinken. Ich hätte im wahrsten Sinne des Wortes kotzen können. Mit einem kugelrunden Bauch legte ich mich in die Röhre und ließ noch drei Versuche, einen Zugang zu legen, über mich ergehen. Nach der Untersuchung streikte zu allem Überfluss dann auch noch meine Blase. Jetzt haben sie alles kaputt gemacht, dachte ich. Mama versuchte mich zu beruhigen. Sie brachte mir ein Kirschkernkissen und sagte, dass ich versuchen soll, die Augen zu zu machen. "Sollte sich in ein paar Stunden nichts getan haben, gehen wir zum Hausarzt, damit er einen Katheter legt.", schlug sie vor. Ich kam mir vor als wäre ich ein 90 jähriger Opa mit Prostatakrebs. Aber nach einem kleinen Schläfchen hatte sich meine Blase wieder gefangen. Ich war so erleichtert, dass ich mich sogar dazu überwinden konnte, einen Jogurt mit Blaubeeren und Müsliriegel zu essen. Über das Ergebnis des MRTs sollte ich auch Dr. Incredible informieren: Der Dünn- und Dickdarm arbeiten aufgrund eines gestörten Nervensystems zu langsam und verursachen ganz viel Luft im Bauch. Nichts neues also. Leider bin ich wegen dieser Motilitätsstörungen auf Laxanzien angewiesen. Diese sollen eine "normale" Darmpassage gewährleisten. Da Laxanzien nicht wie die meisten Medikamente jeden Tag gleich wirken und nur schwer zu dosieren sind, ist es kaum möglich in einen gesunden Rhythmus zu kommen. Besonders der Flüssigkeits- und Elektrolyte-Verlust rauben mir die Energie im Alltag. Eines Abends, als ich mit Wackelpudding in den Beinen spazieren ging und vom Regen, nass bis auf die Unterhose war, riss ich mir meine Klamotten vom Leib, warf sie mit aller Kraft auf den Boden und schrie: "Ich hasse das alles, ich will nicht mehr!"

Es gibt Tage, an denen werfe ich mit Worten um mich, die keine Mutter und kein Vater dieser Welt von seinem Kind hören möchte. Es tut mir jedes Mal schrecklich Leid, wenn sowas aus mir herausplatzt. Deshalb bereitet es meiner Mama sogar Sorgen, wenn ich alleine Auto fahre. Ich versuchte ihr zu erklären, dass das "nur" die Verzweiflung ist, die sich in Form von Worten ein Ventil sucht. Ich glaube besser hätte sie nicht reagieren können: "Ina, ich höre es nicht gerne, wenn du sowas sagst. Aber solange es nur Worte sind, lass sie raus. Es ist besser alles raus zu lassen, als es in sich hinein zu fressen." Dann nahm sie mich in den Arm. So langsam können meine Eltern eine Praxis für Psychotherapie aufmachen, denn sie reagieren immer verständnisvoll und helfen mir das alles zu bewältigen. Natürlich hat auch meine Therapeutin gemerkt, dass ich so langsam am Rande des Wahnsinns stehe. Sie diagnostizierte eine mittelschwere Depression und schlug einen Klinikaufenthalt vor. In eine Klinik wollte ich auf keinen Fall. Sie überlegte mit mir, was mir Freude bereiten könnte. Leichter gesagt als getan, wenn man sich über nichts mehr freuen kann und schon seit Jahren versucht sich mit schönen Dingen abzulenken. Papa ermutigte mich, Dr. Incredible zu fragen, ob ich schon früher wieder Reiten dürfte. Ich bekam einen Monat früher als gedacht das Go, wieder in den Sattel zu steigen. Normalerweise wäre ich nach dieser Neuigkeit, wie ein Flummi durch die Gegend gehüpft. Aber mir kamen die Tränen, da ich keine Freude empfinden konnte. Und das Wissen darüber, dass mich mein Bauchmonster nun endgültig zu Boden gezwungen hatte, machte mich nur noch trauriger.

Mitte April, saß ich dann das erste Mal nach der Operation wieder auf Pepita. Da war sie plötzlich wieder: Die Freude! Es erstaunt mich immer wieder, wie Pepita es schafft, auch in den schlimmsten Zeiten, ein Funken Glück aus mir heraus zu kitzeln. Pferde sind nicht nur der Spiegel unserer Seele, sie sind auch ein besseres Spiegelbild von uns selbst. Ich dachte, dass ich nach 20 min Schritt Reiten, keinen Muskelkater bekommen könnte. Schließlich nahm ich seit Ende Februar zusammen mit Mama an einem Bauch-Beine-Po-Training teil und fuhr auch wieder Rollschuh. Aber die Rückenmuskulatur hatte ich nicht bedacht.

Die letzen Wochen waren sehr stressig für mich, da ich trotz allem meine Ausbildung abschließen wollte. Die Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen fielen mir sehr schwer. Ich konnte mich kaum konzentrieren und hatte ständig das Gefühl, mit allem überfordert zu sein. Mit meiner Erkrankung, mit der Vorbereitung, mit dem Alltag. Es fühlte sich an, als wäre mein Gehirn noch im Urlaub oder in einer Art Schönheitsschlaf. Ich war oft so frustriert, dass ich alles hinschmeißen wollte. Aber mein Papa ermutigte mich immer wieder: "Ina, es ist egal, ob du es schaffst oder nicht. Geh zur Prüfung und versuche es. Ich weiß, dass du immer dein bestes gibst und mehr kannst du auch nicht tun." Recht hatte mein Papa. Hat er eigentlich immer. Ich sag ja, die zwei sind wahre Motivations-Trainer geworden.

Während der letzten Schulwochen hatte ich noch einen Termin in Krefeld. Die Gastroenterologen dort, waren meine letzte Hoffnung. Obwohl mein Bauchgefühl schon angekündigt hatte, dass mir die Medizin nicht mehr weiterhelfen kann. Ich musste vier Monate lang auf den Termin warten und auch dort noch zwei Stunden Geduld aufbringen, bis der Oberarzt mich und meine Mama abholte. Ich hatte, wie ihr wisst, schon viele deprimierende Arztgespräche. Aber das war mit Abstand das aller schlimmste. Der Arzt begann das Gespräch damit, dass er mir all meine Befunde erklärte und ständig wiederholte, dass die Diagnostik ausgeschöpft ist. Wenn er meine Mama und mich mal zu Wort hätte kommen lassen, hätten wir ihn unterbrochen. Aber ich musste mir meine ganze Krankengeschichte von vorne bis hinten anhören. Dann fragte er, was ich essen würde und begann von Ernährungsumstellungen zu sprechen. Ich sagte ihm, dass er damit erst gar nicht anfangen bräuchte, schließlich hatte ich alles erdenklich ausprobiert. Er stellte fest, dass ich sehr viel Obst und Gemüse esse und merkte an, dass Ballaststoffe blähend sind. Ich tüftle Jahre lang aus, wie ich mich am besten ernähre und dieser Arzt denkt, dass ich meinen Körper nicht kennen würde? Aber das war ja erst der Anfang. Er fuhr damit fort, dass ich das Resolor schleunigst absetzten sollte, da die Langzeitnebenwirkungen nicht bekannt sind. Das Medikament könnte zu Herzrhythmusstörungen und diese im schlimmsten Fall zum Tod führen. Ich kann auch morgen vom Bus überfahren werden. Wenn er einen besseren Vorschlag gehabt hätte oder es irgendeine Alternative gäbe, glaubte er dann nicht, dass ich diese wählen würde? Davon mal abgesehen, muss man einem chronisch kranken Menschen auch noch Angst vor dem Tod machen? Gegen Ende kam er dann auf die Operation zu sprechen, die er absolut nicht befürwortete und er war erst recht nicht davon begeistert, dass ich diesen Schritt nicht mit Hamburg abgesprochen hatte. Warum soll ich Ärzte um Rat bitten, auf die ich mich nicht verlassen kann? Mein Körper, mein Bauchgefühl, meine Entscheidung. Er sah den Nutzen der Operation nicht, obwohl ich ihm erklärte, dass ich dadurch keine Oberbauch-Beschwerden mehr habe. Aber er schien mir nicht zuzuhören und ausreden ließ er mich auch nicht. Stattdessen fing er an von künstlicher Ernährung und künstlichem Darmausgang zu sprechen. Stimmt, eine Prothese im Bauch ist sehr viel schlimmer als ein Loch im Darm. Als ich einen letzten Versuch startete, eine Behandlungsstrategie zu finden und alternative Heilmethoden ansprach, sagte er nur: "Diese Mediziner sind alles Scharlatane, die können dir auch nicht helfen." Wer im Glashaus sitzt... Ich hatte viele Fragen, aber die einzige auf die ich eine Antwort bekam war, ob ich nun mein Leben lang Abführmittel nehmen sollte. "Ja, das müssen Sie sogar. Es kann zwar zu Gewöhnungseffekten kommen und die Darmstruktur kann sich verändern, aber es bleibt Ihnen nichts anderes übrig." Er hätte mir das ganze Leid ersparen können, wenn er schlicht und einfach gesagt hätte: "Die einzige Möglichkeit, die noch helfen könnte, ist ein Medikament, das man nur in der Auslandsapotheke bekommt. Wenn auch das nicht hilft, dann können wir nur noch auf den medizinischen Fortschritt hoffen."

Der Tag war für mich gelaufen. Erst, als ich mit Mama und Papa eine Runde spazieren ging, konnte ich mich beruhigen. Es ist der Zeitpunkt erreicht, an dem mich Arztbesuche nicht mehr vorwärts bringen, sondern mich nur zurück werfen. So langsam begreife ich, dass ich auf mich alleine gestellt bin. Natürlich unterstützen mich meine Eltern weiterhin. Was ich damit sagen möchte ist, dass ich auf mein Bauchgefühl hören und selbst entscheiden muss, was für mich in welcher Form das Beste ist. Außerdem muss ich Akzeptanz für das ganze schaffen, denn ich kann meinen Körper nicht wie ein Kleid das nicht passt oder eine Hose die zu eng ist, umtauschen. Ich stecke in diesem Körper fest und muss lernen damit umzugehen. Ich stehe noch am Anfang dieses Weges, aber ich habe viele Gefährten, die den Weg mit mir zusammen gehen. Auch wenn ich noch am Anfang stehe, merke ich doch jeden Tag, wie viel ich schon gelernt und verstanden habe. Die Abschlussprüfungen habe ich doch noch durchgezogen. Ich war stolz wie Oskar und überglücklich. Meine Mitschüler hingegen ärgerten sich schon gleich nach Abgabe der Prüfung über vermeintlich falsch beantwortete Fragen. Die Antworten lassen sich doch nicht mehr ändern, also denkt daran: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.

Ich hoffe, dass ich euch durch meinen Beitrag zeigen konnte, dass körperliche und psychische Erkrankungen nicht immer sichtbar sind. Man weiß nie, was ein Mensch hinter der Fassade für einen Kampf führen muss. Trotzdem ist das Leben lebenswert. Man muss sich "nur" immer wieder daran erinnern, wofür man dankbar ist und für wen es sich lohnt zu leben.




 
 
 

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