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Meine (rettende) Stimme

In meinem letzten Beitrag habe ich erzählt, dass ich Gedanken habe, die mich nicht loslassen, die ich nicht haben möchte. Es geht darum, dass man mich sehr lange nicht ernst genommen hat und ich dadurch begann zu glauben, dass ich mir nur Gehör verschaffen kann, in dem ich nach außen zeige, wie krank ich bin. Daraus entstand 2018 eine Stimme, die mich ständig daran erinnert, dünn und krank auszusehen, damit mir geholfen werden kann. Meine Therapeutin hatte mir gesagt, dass man auch das Gegenteil annehmen könnte. Und zwar, dass ich gerade wenn ich zunehme, ernst genommen werden kann. Denn dann sehe ich erwachsener aus und kann mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein auftreten. Letzte Woche hatte mir dieser Blickwinkel total geholfen. Einen ganzen Tag lang, war meine Stimme ruhig. Doch meine Gedanken kamen schneller zurück als ich gucken konnte. Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn ich meine Gedanken von heute auf morgen ändern könnte. Da meine Stimme sehr tief sitzt und äußert aufmüpfig ist, sollte ich daher eine therapeutische Übung machen, die ich anfangs sehr befremdlich fand. Ich sollte einen zweiten Stuhl vor mir platzieren. Darauf sitzen meine Gedanken, meine Stimme, ein anderer unerwünschter Teil von mir. Ich wechselte je nach dem, wen ich gerade verkörpern sollte, zwischen den Stühlen hin und her.

Stimme: "Ina, du darfst nicht zunehmen! Du darfst nicht gesund aussehen! Du musst dünn und krank aussehen, damit wir ernst genommen werden, damit uns zugehört wird!"

Ina: "Ich bin wütend und traurig darüber, dass du mich so unter Druck setzt. Du solltest mich unterstützen und mir kein schlechtes Gewissen einreden. Du bist einfach nur böse!"

Stimme: "Es ist mir egal, dass du so fühlst. Ich passe auf uns auf, egal was dazu nötig ist. Ich habe für dich diese Strategie entwickelt und nur dadurch wurde uns geholfen. Es hat funktioniert, also machen wir weiter so."

Ina: "Ich weiß, dass du denkst, dass das der richtige Weg ist. Aber ich glaube, das ist der falsche Weg. Auch wenn du uns damals gerettet hast, bedeutet das nicht, dass du uns jetzt wieder retten kannst."

Stimme: "Ina, du hast es doch schon unzählige Male erlebt. Immer wieder dachtest du, dass es dir nun besser geht. Doch nach einigen Wochen oder Monaten wurde es immer wieder schlechter. Jedes Mal hattest du Angst, dass dir nun keiner mehr glauben wird. Das wird auch dieses Mal so sein!"

Ina: "Das weißt du doch nicht. Vielleicht ist Zunehmen nun endlich langfristig möglich und der Weg, der uns helfen wird. Schließlich haben wir nun Unterstützung von meinem Magenschrittmacher. Ich wünsche mir von dir, dass du es mich auf meine Weise probieren lässt."

Stimme: "Ich denke, dass deine Weise zu riskant ist. Wenn du jetzt wieder gesund aussiehst und dein Magenschrittmacher doch nicht so großartig funktioniert, wie du es dir gerade einredest, dann wirst du dir wünschen, du hättest auf mich gehört. Alle werden sich über deine Fortschritte freuen, doch wenn es dann wieder Berg ab geht, hast du alle enttäuscht!"

Ina: "Das Risiko muss ich eingehen. Ich ertrage deine Kommentare nicht mehr. Deine Denkweise macht keinen Sinn. Du liegst falsch. Ich glaube du bist hier die Einzige, die mich nicht versteht und mir nicht zuhört."

Stimme: "Das verletzt mich, Ina. Ich möchte nur das beste für dich. Warum weißt du das nicht zu schätzen!? Du lügst dich und alle anderen an, wenn du denkst, dass du es schaffen kannst körperlich zuzunehmen und das auch noch möchtest. Aber wenn du wirklich in dein Verderben rennen möchtest, dann werde ich mich zurückhalten."

Ina. "Es tut mir Leid Stimme, aber das kann ich dir nicht glauben. Dafür bist du schon seit Jahren viel zu laut."

Stimme: "Ich kann dir nicht versprechen, dass ich meinen Mund halten kann, doch ich werde es versuchen. Auch wenn du sehen wirst, dass ich Recht habe!"

Ina: "Ich vertraue dir immer noch nicht, aber ich danke dir, dass du es versuchst."

Nach diesem Gespräch, sagte ich zu meiner Therapeutin, dass ich das Gefühl habe, total verstört zu sein. Als wäre ich schizophren. Sie antwortete mir, dass ich sowas nicht denken darf, da eine solche Stimme etwas ganz normales ist. Sie entsteht, in einer sehr verzweifelten Situation. Wenn wir uns hilflos fühlen und keinen Ausweg sehen, dann versucht unser Körper eine Strategie zu entwickeln, um das Überleben zu sichern. Ich erinnere mich an eine Situation, die mich bis heute verfolgt. Nach einigen Untersuchungen, die alle ohne Befund waren, zog ich vor einer Ärztin mein Oberteil hoch und zeigte ihr meinen völlig aufgeblasenen Bauch. Er war so dick, dass ich dachte, er würde jede Sekunde explodieren. Die Schmerzen waren unerträglich. Die Ärztin schaute meinen Bauch an und sagte: "Der ist doch nicht aufgeblasen, sieht doch normal aus." Ich habe viele solcher Situationen erlebt und das über fünf Jahre lang. Die Gefühle, die ich jedes Mal aufs neue erlebt habe, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Und dabei wollte ich doch nur, dass mir jemand hilft. Doch die Hilfe kam zu spät. Aus dieser Verzweiflung heraus, war die Stimme geboren. Sie verschaffte mir auf andere Art und Wiese Gehör. Auch, wenn die Ärzt: innen zunächst auf eine Essstörung plädierten und mich zu einer Kinder- und Jugendtherapeutin schickten, war es doch der erste Schritt in die richtige Richtung. Von Arztbesuch zu Arztbesuch wurde die Stimme bestätigt. Bestätigt, weil nun endlich Untersuchungen gemacht wurden, die unumstößliche Diagnosen hervorbrachten. Und wenn mal im Arztbericht stand: "Die Patientin wurde mit Normalgewicht eingeliefert.", dann wurde die Stimme in den darauf folgenden Wochen noch lauter. Auch wenn mich die Stimme seit Jahren verfolgt, habe ich nie auf sie gehört. Ich habe immer soviel gegessen, wie es mir körperlich möglich war. Denn ich wusste, das war die einzige Chance zu überleben und mich vor einer parenteralen Ernährung zu bewahren. Die körperlichen Symptome machten mir das Essen und Trinken aber teilweise unmöglich. Nicht zu essen, wäre für mich so viel leichter gewesen: Keine Schmerzen, keine Übelkeit, keine Luftnot, keine verurteilende Stimme. Einfach nur Ruhe. Es gab keine Stabilität. Nichts, an das ich mich langfristig gewöhnen konnte. Immer wieder entwickelten sich neue Probleme, die mir den Alltag erschwerten. Und das nutzt die Stimme schamlos aus. In Phasen, in denen ich mein Gewicht wieder stabilisieren kann, ist meine Stimme nicht ganz so laut. Es geht mir "gut", zunehmen ist eine logische und stimmige Konsequenz. Doch in schlechten Phasen werde ich angeschrien: "Ina, du siehst wieder viel zu gesund aus. Jetzt ist es wieder unmöglich, dass uns jemand glaubt. Wir sind schon wieder auf uns allein gestellt. Und dabei predige ich es dir jeden Tag, aber du willst ja nicht hören!". Meine Stimme ist sehr stark und trotzdem konnte ich aus dieser therapeutischen Übung mitnehmen, dass ich stärker bin. Doch die Angst, dass ich meine Stimme nicht los werde und ihr irgendwann nachgeben muss, bleibt. Meine Therapeutin sagt, dass ich die Stimme ohnehin nicht abschalten kann, weil sie ein Teil von mir ist. Sie ist der Teil von mir, der sich damals Gehör bei den Ärzt: innen verschafft hat und mit den vielen Veränderungen, die seit Jahren auf mich zukommen nicht umgehen kann. Deshalb muss ich der Stimme beibringen, sanftere Worte zu finden, unterstützende und heilende Worte.

 
 
 

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