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Auszeit

Aktualisiert: 15. Juni 2023

Die Welt dreht sich immer schneller. Wir sind rund um die Uhr erreichbar, sollen immer mehr leisten und einfach funktionieren. Am besten nach der Grundschule das Abitur machen, ein Auslandsjahr absolvieren, den Bachelor anfangen. Im Anschluss den Master machen und währenddessen noch ein Auslandssemester einschieben. Mit Mitte Zwanzig dann in einen gut bezahlten Job einsteigen. Sieht so Euer Lebenslauf aus? Wenn ja, dann herzlichen Glückwunsch. Denn dann seid Ihr einer unter wenigen, der diesen Erwartungen gerecht werden konnte. Bei den meisten von uns macht der Lebenslauf einige Umwege. Aber dadurch sind wir doch nicht schlechter oder besser. Wenn ich eines durch meine Erkrankung gelernt habe dann das, dass wir tun sollten was wir -und damit meine ich nur wir alleine- gerne tun möchten. Ich hatte in den letzten Jahren oft das Gefühl, dass ich total wenig schaffe und eigentlich viel mehr hätte leisten müssen. Aber das ist ein Trugschluss. Ich habe mittlerweile erkannt, dass ich sehr wohl viel geschafft habe und vor allem viel vom Leben gelernt habe. Viel mehr als ich hätte ohne meine Erkrankung lernen können. Das was man in der Schule, in der Ausbildung oder im Studium lernt, ist etwas ganz anderes. Ich sage nicht, dass es unwichtig ist. Ich denke nur, dass es noch andere wichtige Dinge im Leben fürs Leben zu lernen gibt. Für mich ist die größte Herausforderung mit meiner Erkrankung zu leben. Alles andere schließt sich an. Uns um unsere Gesundheit zu kümmern sollte immer an erster Stelle stehen, denn das ist unser Fundament auf dem wir bauen müssen. Deshalb sind Auszeiten und Erholung besonders wichtig. In meinem Fall ist der Sommerurlaub jedes Jahr die beste Möglichkeit auszuruhen und durchzuatmen. Immer wenn ich am Meer bin, die Sonne meine Haut wärmt und mein Teint endlich von weiß zu hautfarben wechselt, fühlt es sich beinahe unrealistisch an. Ich denke an keine Arzttermine oder Untersuchungen, mache mir keine Sorgen über die Zukunft. Ich genieße nur das Leben, in vollen Zügen. Das aller beste Gefühl ist es ganz vorne auf dem Bug unseres Bootes zu sitzen. Wenn die Spitze sich aus dem Wasser hebt und das Boot über die Wellen gleitet. Für wenige Sekunden schwebe ich über dem Meer und höre nur das Rauschen des Windes -und zugegebenermaßen- unseren unfassbar lauten Motor. Das Wasser ist an einigen Stellen so klar, dass man während der Fahrt die Felsen auf dem Grund und ganze Fischschwärme sehen kann. Eines Morgens fuhren wir, wie jeden Tag, langsam bis zur ersten Boje und dann raus aus der Bucht aufs offene Meer. Als wir gerade um die erste Spitze herum, an der kleinen Kapelle vorbei kamen, sprang plötzlich vor uns etwas aus dem Wasser. Alle riefen sofort: "Delfine!", dabei war es nur ein Thunfisch, der vor uns auftauchte. Delfine bekamen wir aber trotzdem noch zu sehen, wie Seepferdchen und Gänsegeier. Wenn neben uns zufällig Italiener ankerten bekamen wir des öfteren Tintenfische gezeigt. Irgendwie haben Italiener ein Talent dafür diese zu fangen. Und dann gibt es natürlich noch die unangenehmen Meeresbewohner, wie Seegurken und Seeigel. In einen Seeigel will man wirklich nicht treten, auch nicht mit Wasserschuhen. Anschließend pult nämlich deine Mama mit einer Nadel in deinem Fuß rum, während Papa mit einem Bier in der Hand daneben steht: "Ich habe gehört man soll auf die Stacheln drauf pinkeln." Auf den Captain wurde in dieser Situation ausnahmsweise mal nicht gehört. Auf Captain Papa ist immer Verlass. Allerdings sollte man auch Mamas Wetternasse ernst nehmen. Als wir nach Tagen voller Bora (Fallwinde) endlich wieder rausfahren konnten, fuhren wir alleine in eine verlassene Bucht. Toten Stille, als würde das ganze Meer uns allein gehören. Als Papa gerade auf dem offenen Meer mit dem Standup-Paddle unterwegs war, blickte Mama in die Ferne und fing an wild mit den Armen zu wedeln: "Schatz! Komm zurück!" Während sich der Captain gemütlich auf den Rückweg machte, packte seine Crew alles zusammen und war bereit zum ablegen. Normalerweise fährt man ja vor dem schlechten Wetter davon, aber wir fuhren geradewegs darauf zu. Unsere Heimatbucht lag an diesem Tag nicht ganz vorteilhaft. Nicht nur wir sahen das schlechte Wetter kommen, plötzlich fuhren alle Boote in Windeseile nach Hause. Während wir bei Donner, Blitz und strömendem Regen versuchten an der Boje anzulegen, saßen die weniger mutigen Seeleute auf ihren überdachten Balkonen und bekamen Kino der besondern Art zu sehen. Am letzten Abend saßen wir oberhalb der Bucht im Restaurant und schauten auf die Boote, die ruhig an ihren Bojen und Stegen lagen. Die Sonne färbte sich von Orange langsam zu dunkel rot. Die Zirpen summten und der Wind blies uns die salzige Luft in die Nasen. Als mir der Kellner die Speisekarte in die Hand drückte und mein Papa fragte, was ich bestellen wollte, war ich wie gelähmt. Ich starrte die Schrift an und fing an zu weinen. Ich verlies den Tisch und setzte mich auf eine Steinmauer. Ich konnte nicht aufhören zu weinen und starrte auf ein altes Bootsfrack, das neben den Häusern auf dem Berg lag. So kaputt und trotzdem so schön... Der Grund für meine Tränen war das Abendessen. Denn es war das Letzte für dieses Jahr, der letzte Abend und der Tag des Abschieds. Irgendwann holte Mama mich zu Tisch und ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich nächstes Jahr wieder dort sein werde.






 
 
 

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