1 von 30 unter 80Millionen
- Ina Luzia
- 20. Jan. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Juni 2023
Sonntag Abend ging es los ins Krankenhaus. Wir waren alle ziemlich angespannt, es herrschte totenstille im Auto. Als mein Papa plötzlich über den nächsten Sommerurlaub redete, wie schön dieser werden würde, kamen mir die Tränen. Weil ich nicht schon wieder weinen wollte, schaute ich aus dem Fenster und beobachtete, wie die Landschaft rasendschnell an mir vorbei flog. Im Krankenhaus angekommen, gab es erstmal Chaos auf der Station. Es wurden so viele Notfälle eingeliefert, dass kein Frauenzimmer mehr frei war. Also bekam ich kurzer Hand für diese Nacht ein Einzelzimmer auf der Privatstation. Meine Eltern durften mich begleiten und zusammen mit mir auf den Oberarzt warten. Das war mal wieder eine Ausnahme, weil auf Grund der strengen Corona-Regeln, eigentlich niemand als Begleitung mitkommen darf. Auf dem Zimmer angekommen wunderte ich mich über die Ausstattung. Wenn in der Mitte des Raumes kein Krankenbett gestanden hätte, hätte man meinen können es handle sich um ein Hotelzimmer. Gerade als wir uns hinsetzten, rief mich auch schon Dr. Incredible an. Er war auf dem Weg und wollte wissen, ob wir gut angekommen sind. Als er zur Tür reinkam setzten wir uns um den Tisch herum und er fing an zu erklären. Da es für meinen Eingriff wie Ihr wisst keinen Vordruck gab, brachte er einen Aufklärungsbogen für eine Bypass-OP mit und drehte diesen auf die Rückseite. Er holte seinen Füller aus der Tasche und fing an zu zeichnen. Zuerst die Aorta und die Bauchschlagader. Dann erklärte er uns das Nussknackerphänomen und anschließend das Wilkie-Syndrom. Das Nussknackerphänomen bedeutet, dass die linke Nierenvene von Aorta und Bauchschlagader eingequetscht wird. Die linke Nierenvene dient sozusagen als Sammelpunkt für mehrere kleine Gefäße, die dort münden. Das Blut fließt dann von dort aus zurück zum Herzen. Durch meine Bauchschlagader wurde dieser Weg allerdings versperrt, sodass das Blut nicht auf gewöhnlichem Wege zurück zum Herzen fließen konnte. Es floß also entgegengesetzt der Blutrichtung zurück und suchte sich andere Wege. In meinem Fall hat sich das Blut seinen Umweg über den linken Eierstock gesucht. Normalerweise hat diese Vene einen Durchmesser von nur 0,4mm. Meine Vene war schon auf 1,8mm geweitet. Die Symptome beim Nussknacker können ganz unterschiedlich sein. Es können gynäkologische Probleme auftreten sowie Blut im Urin oder Rückenschmerzen. Er erzählte uns von einer Patientin aus Norwegen, die aufgrund des Nussknackerphänomens im Rollstuhl saß. Ihr Blut nahm den Umweg über eine Vene im Rücken. Diese war so stark geweitet, dass sie gegen das Rückmark drückte und die Frau lähmte. Wirklich schlimme Beschwerden hatte ich nicht. Ein bisschen Rückenschmerzen bei längerem Stehen. Ab und zu Schmerzen im linken Unterbauch. Aber das Zentrum meines Schmerzes konzentrierte sich immer auf den Bauch, was uns zum Wilkie-Syndrom führt. Unter der linken Nierenvene verläuft der Zwölffingerdarm, der ebenfalls durch den spitzen Winkel meiner Bauchschlagader eingequetscht war. Normalerweise sollte der Winkel bei 45 Grad liegen. Der Radiologe hat bei mir einen Winkel von nur 9 Grad gemessen. Es konnte also keine Nahrung und Flüssigkeit diese Engstelle problemlos passieren. Normalerweise wird bei der OP die Bauchschlagader von der Aorta abgetrennt und verlegt. Diese Methode wurde erstmals 2006 von Dr. Sandmann, dem Chef und Lehrer meines Arztes, angewendet. Zuvor musste man den Zwölffingerdarm verlegen. Seit 2019 praktiziert Dr. Incredible aber noch eine weitere Technik. Und zwar wird eine Prothese um die linke Nierenvene herumgelegt, wodurch die Bauchschlagader automatisch angehoben wird. Der Nachteil daran ist, dass es darüber noch keine Studie gibt. Aber der große Vorteil ist natürlich, dass man die Gefäße nicht großartig verletzten muss. Welche Methode es letztendlich werden würde, konnte er erst entscheiden, wenn der Bauch offen auf dem OP-Tisch lag. Das Wilkie-Syndrom wird in Deutschland jährlich bei nur 30 Menschen diagnostiziert. Ich bin also einer von 30 unter 80 Millionen. Kaum zu glauben, dass gerade ich den Beitrag im Fernsehen gesehen habe. Da fast kein Arzt diese Erkrankung erkennt, geschweige denn operiert, kommen die Menschen aus der ganzen Welt zu Dr. Incredible. Nachdem alle übergebliebenen Fragen beantwortet wurden, nahm mir der Oberarzt noch Blut ab. Das war wichtig, für die Eigenbluttransfusion. Hier wird zunächst Blut abgenommen, in einer Zentrifuge aufbereitet und dann zurückgegeben, falls während der OP kleinere Blutungen entstehen sollten. Aber auch, damit die Blutgruppe bestimmt werden kann, falls für größere Blutungen Fremdblut benötigt werden sollte. Dr. Incredible wies den Narkosearzt an, mir die kleinsten aller Schläuche in den Hals zu legen, damit es keine hässlichen Narben gibt. Was angesichts meiner Bauchnabe, die vom Brustkorb bis unter den Bauchnabel reicht, doch etwas komisch klingt. Da meine Eltern einen etwas verängstigten Gesichtsausdruck machten, versicherte der Oberarzt: "Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen um ihre Tochter zu machen, es wird Morgen alles gut gehen." Dann fragte er, ob ich ihre einzige Tochter wäre. Mein Papa antwortete sofort: "Ja!" Meine Mama fügte hinzu: "Wir haben auch noch einen Sohn." Keine Sorge Papa, Erik wird es dir verzeihen. Der Oberarzt betonte, dass er mich nach der OP und dem Krankenhausaufenthalt nicht alleine lassen wird. Er tauschte mit meinen Eltern -nein falsch, nur mit meiner Mama- die Telefonnummern aus, damit er sie nach der OP informieren konnte. Zum Abschied umarmte mich Papa mit gläsernen Augen mindestens 10 mal. Mama machte zwar einen gefassteren Eindruck, aber die Fassade trübt. Und dann war ich alleine. Um nicht vor Angst durchzudrehen, telefonierte ich noch mit meinem Cousin und zwei Freunden. Dank einer Beruhigungspille schlief ich tief und fest bis in den nächsten Morgen.

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